Susanne Leimstoll
Halina Hildebrand porträtiert behinderte Menschen – mit dem Feingefühl einer
Heilpraktikerin. Denn das war 30 Jahre ihr Beruf.
Sven sagt: „Ich wollte ja immer zum TV.“ Jetzt ist er Theaterschauspieler, gibt derzeit
die kriminelle Kopie des bösen Friederich aus dem Struwwelpeter, einen Kerl, der die
Familie quält und Leute umbringt. Und nach dem Falco-Song „Jeanny“ zelebriert er auf
der Bühne ein böses, dreckiges Lachen. Halina Hildebrands Kamera hält diesen
talentierten Typ fest: sein Gesicht mit dem spöttischen Mund, funkelnde dunkle Augen,
einen halb nackten Körper beim Umziehen hinter der Bühne. Sven erlaubt das.
„Fotografieren gehört zum Job“, sagt er betont selbstverständlich. Aber die Abzüge, die
er der Fotografin mit Händen abnimmt, die nicht selbstverständlich greifen können,
drückt er stolz und verliebt an die unebene Brust.
Ein 28-Jähriger im Rollstuhl, ein Spastiker mit kranken Knochen, den Kopf im Nacken,
die Finger verdreht, der Körper kleinwüchsig. Doch die Aufnahmen dieser Fotografin
zeigen etwas anderes: eine unverkrüppelte Seele. Durch und durch Lachen und Stärke
und Lebensfreude.
Das also sind Halina Hildebrands Fotomodelle: die Mitglieder der skurrilen Berliner
Theatertruppe Ramba-Zamba, zu der auch Sven gehört. Und Uli, die kleinwüchsige,
asthmakranke Diva, Sebastian mit dem kindlichen Gesicht, Diana, die entrückte
Traurige, Heiko, der Sensible im Teufelskostüm. Schwerbehinderte, psychisch Kranke,
Depressive. Oder an anderen Orten: Demente im Pflegeheim, versunken in ihrer fernen
Welt, erstarrt in einer Pose. Obdachlose, Junkies, Straßenkünstler. Sie alle eint im Foto:
Würde. Und es verschwimmen die Grenzen zwischen gesund und krank, zwischen
normal und anormal. „Was mich am meisten bewegt, ist die Bravour, mit denen diese
Menschen ihr Leben meistern“, sagt Halina Hildebrand. „Und: Wer bestimmt schon,
was normal ist und was nicht?“
Sie macht das noch nicht lange, drei Jahre erst ist sie Fotografin. Der Zugang zu ihren
ungewöhnlichen Modellen erklärt sich aus ihrem früheren Beruf: 30 Jahre lang war
Halina Hildebrand, 57, Heilpraktikerin. Drei Jahrzehnte Dasein für Kranke,
Verständnis für Bedürfnisse, für alles, was zu kurieren ist oder nie mehr gut wird. Das
war Berufung und machte doch nach drei Jahrzehnten mürbe. Nun ist sie nur noch
Beobachterin, hat sich zurückgezogen hinter die Spiegelreflexkamera. Doch ihre
Erfahrung aus dem alten Beruf nützt gewaltig. Der Menschenfreundin öffnen sich die
Herzen, sie arbeitet mit Vertrauensvorschuss, und sie enttäuscht niemals.
Das Fotografieren war lange Hobby, dann wurde es zur Leidenschaft: Fortbildungen bei
namhaften Fotoprofis, Auslandsaufenthalte, eine erste Ausstellung folgten. Den
Geschäftsführern der „Via“, eines Berliner Trägerverbunds von Behindertenwerkstätten
und betreutem Wohnen, gefielen ihre Bilder – und Halina Hildebrand fragte, ob sie
fotografieren dürfe in diesen Einrichtungen. So begann die große Porträtreihe von
Menschen mit Handicap, tausende Bilder sind es schon, kein Ende in Sicht, das Thema
fasziniert sie weiter. Die erste Ausstellung, Höhepunkt des Hoffestes der „Via“ im letzten
August, zeigte 120 Porträts, ein einziges großes Bekenntnis von Zuneigung. „Wir waren
alle platt. Überall auf den Fluren hingen die Fotos von diesen Menschen in ihrer
Besonderheit, Schönheit, Verletzlichkeit“, sagt Gisela Höhne, Leiterin von Ramba
Zamba. Von Mittwoch an sind einige dieser Bilder und auch Aufnahmen aus der
Psychiatrie, 55 insgesamt, ein weiteres Mal auf Fluren zu sehen: im
Gesundheitshaus Pankow.
Halina Hildebrand arbeitet schnell und still, sie muss den Moment einfangen, das
geben ihre unruhigen Modelle vor. Zwischen den Schauspielern von Ramba Zamba
bewegt sie sich wie eine Vertraute: kleine, leise Regieanweisungen, ein Streicheln über
den Kopf, viel fröhliches Lachen. Sie macht fünf Aufnahmen und geht beiseite. Das
nächste Mal wird sie ein paar Drucke mitbringen. „Dann fassen sie Vertrauen, weil sie
sehen: Ich mach’ sie schön“, sagt die Fotografin. Dieser Blick auf Menschen, die nicht
glatt sind und nicht perfekt, nimmt dem gesunden Betrachter jegliche Arroganz. Auch
ihr selbst. „Ich gehe auf mein Modell zu, und in meinem Bild seh’ ich dann was ganz
anderes. Da spüre ich bei mir immer wieder eines: Demut.“
Tagesspiegel vom 22.02.2011