Wald

Bäume sind Heiligtümer.  Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das Einzelne unbekümmert, das Urgesetz des Lebens.

Hermann Hesse

 

Der Wald ist Teil meines Lebens. Sobald ich ihn betrete, bin ich inspiriert und glücklich. Es ist, als ob sich meine Sinne schärfen und ich geführt werde. Ich sehe nicht nur die Bäume, sondern auch die Zwischenräume.

Meine Waldfotografien sind Mehrfachbelichtung, bei denen aus zwei oder mehr übereinander gelagerten Bildern ein neues Werk entsteht; eine Fotografie, bei der in wenigen Momenten unterschiedliche visuelle Realitäten zu einer neuen Wirklichkeit verschmelzen. Für mich geht es um Verdichtung und Wahrheit.

Jeder von uns lebt seine persönliche Realität, mit eigenen Überzeugungen und Wahrheiten. Denn nur so, sagt der Kommunikationswissenschaftler und Psychotherapeut Paul Watzlawick, kriegt man Sinn und Ordnung ins Leben. Dieser Mechanismus kann zu großen Widersprüchen in der Gesellschaft führen – wie wir es momentan immer wieder erleben.
Was für den Einen unumstößliche Wahrheit ist, ist für den Nächsten irreal und fremd.
Trotzdem gibt es etwas, was uns alle verbindet. Der Psychoanalytiker C.G. Jung nannte es das „kollektiv Unbewusste“. Er meinte damit, dass Menschen durch jahrhundertealte, kollektive Erfahrungen eng miteinander verbunden sind. Mythen und Märchen vermitteln bis heute Gefühle von Sicherheit, Aufrichtigkeit, aber auch Angst oder Gefahr und Faszination. Heute gibt es keine Räuber oder Wölfe, die Großmütter verschlingen, aber weil der Wald in vielen Geschichten und Märchen mal mit Gefahr und mal mit Sicherheit verbunden war, wirkt dieses Bild vom Wald bis heute nach. Die Faszination am Wald spiegelt sich in meinen Bildern wider.

In meinen Arbeiten strebe ich die Verbindung von Widersprüchen unterschiedlicher Realitäten und der daraus resultierenden unterschiedlichen Wahrheiten an. Gewohnte Denk- und Wahrnehmungsmuster, zum Beispiel von richtig und falsch, werden dabei in Frage gestellt, verlieren möglicherweise ihre Gültigkeit. Was passiert, wenn verschiedene Bilder oder Sichtweisen gleichzeitig präsent sind? Konkurrieren sie miteinander oder verdichten sie sich zu etwas Neuem, etwas Starkem, einer neuen Botschaft – einer neuen Wahrheit?
Meine mehrfach belichteten Bilder, die auf den ersten Blick naturgetreu und wahrhaftig erscheinen, sind voller Brüche und Unvereinbarkeiten. Bei genauerer Betrachtung findet jeder seine Wahrheit: nicht im Entweder-Oder, sondern im Nebeneinander, Übereinander und Ineinander.
Die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem wird erst durch das Vereinende möglich und sichtbar – eine zutiefst weibliche Eigenschaft. Davon bin ich überzeugt. Genau das will ich mit meiner Arbeit zeigen.