Die Welt als Veränderung

In ihren jüngsten Arbeiten, den Serien von Seestücken, Wald- und Wüsten- oder Dünenlandschaften, erweist sich Halina Hildebrand als Fotokünstlerin oder künstlerische Fotografin im eigentlichen Wortsinn. Denn ihr Werkzeug ist einzig die Kamera. Was heute so populär ist, nämlich Fotoarbeiten am Computer entstehen zu lassen, oder, Realitäten penibel nachzubauen, um diese dann abzufotografieren, ist für Hildebrand keine Option. Nein, die Fotografin fotografiert die sie umgebende Realität und findet ihre Motive in der Natur. Diese allein dienen als Grundlage und Ausgangspunkt für ihre eindringlichen Werke.
Als gestalterisches Mittel setzt Hildebrand dabei auf das System der Motivüberlagerung und auf ihre eigene Intuition und Erfahrung. Das Resultat sind fluide Bilder von Welt, die unsere alltäglichen Sehgewohnheiten stören, vielleicht sogar in Frage stellen und eine andere Möglichkeit eines Raum-Zeitgefüges vorstellen.

Hildebrand wählt zunächst bekannte, geradezu pittoresk schöne Landschaftsmotive, Ansichten von Meer, Wäldern und Dünen, um diese dann auf ihre Weise gestalterisch zu interpretieren und uns zur Neubewertung zu überlassen. Dafür wendet sie die Form der Veränderung an. Es ist dieser Vorgang des mehrmaligen Betätigens des Kameraauslösers, der auf dem Bild die Veränderung des Motivs sichtbar festhält. Durch diesen Vorgang gehört die Aufmerksamkeit des Bildes nicht mehr dem Bildmotiv, sondern eben seiner Veränderung. Als Resultat entstehen statt definitiver Bilder simultane, fluide Bilder, eine Addition von Vorbildern, Zwischenbildern, Nachbildern von vermeintlich ähnlichen Naturerscheinungen.
Diese Veränderung generiert die Fotografin, indem sie das oft Geübte, das ihr so vertraut ist, dem Ereignis des Zufalls aussetzt. Wenn sie ein Motiv fixiert und abgedrückt hat, erkennt sie intuitiv im Bruchteil von Sekunden, was sich als brauchbares „Vorbild“, als weiterführendes Element und Leitmotiv für die nachfolgenden Bilder herausstellt. Es handelt sich hier gleichsam um einen automatischen Vorgang, der vom Unbewussten gesteuert wird und anderen Kriterien folgt als dem Intellekt oder der Ratio. So kann die Fotografin auch erst nach Abschluss des Fotografiervorganges beurteilen, welche Bildrealitäten sich letztendlich einstellen.
Fest steht, dass diese Bildrealitäten unheimlich anmuten. Sie fangen Erinnerungsfetzen ein, lassen Gefühle anklingen und wieder verebben, rufen Urängste wach und vertreiben sie wieder. Die physische Stabilität des vermeintlich Bekannten und Gesehenen wird in Frage gestellt und das Euklidische Weltbild, das uns einst Beständigkeit suggerierte, aus den Angeln gehoben. Hildebrands Arbeiten veranschaulichen jene Risse in der Realität, die wir empfinden, aber rational nicht wahrhaben wollen. Ihre Bilder werden zu flüssigen Schatten dessen, was wir eigentlich als stabil und fassbar zu kennen glauben, denn jedes Lebewesen braucht diese Sicherheit zur physischen und psychischen Erdung. Und doch wissen wir intuitiv, wie schnell kontrolliertes Sein verloren geht, ja, dass es die Ausnahme darstellt und dass es das, was wir als Dauer, oder gar lineare Dauer verstehen, gar nicht geben kann. Mit ihrem vorsätzlichen Perspektivwechsel verlässt Hildebrand ihren, aber auch unseren Standpunkt immer von neuem und macht sich und uns abhängig von kleinen, aber unvorhersehbaren Zufällen.

Betrachten wir dieses Phänomen in einem größeren Zusammenhang, etwa bezogen auf die naturwissenschaftliche Deutung unserer Existenz, finden wir dafür geradezu atemberaubende Analogien zum aktuellen Diskurs innerhalb der Physik. Hildebrands Vorgang des Fotografierens hält nicht ein Bild eines Motivs fest, sondern mehrere Versionen davon, die sich überlagern, addieren und zusammenbinden, ja ihre dargebotene Perspektive wechseln.

In seinem im letzten Jahr erschienene Buch „Die Ordnung der Zeit“ sieht der Physiker Carlo Rovelli als beste Sprache, in der sich die Welt denken lässt, die der Veränderung und nicht der Dauer. Eine Sprache des Geschehens und nicht der Zeit. Rovelli meint: Wenn wir die Welt als eine Gesamtheit aus Ereignissen, aus Prozessen denken, können wir sie besser erfahren, begreifen, beschreiben. Und er führt weiter aus: Die Welt ist keine Menge aus Dingen, sondern aus Ereignissen.

Mit ihren Bildern beschreibt Halina Hildebrand also nichts anderes als die Welt, wie sie ist, nämlich, dass sie permanent geschieht. Der Prozess des Fotografierens sinkt gleichsam in die Zeitlichkeit des einzelnen Werkes ein und zeigt dem Betrachter, dass Meere, Wälder, Dünen sich in ständiger Veränderung befinden, so wie wir selbst.

Hildebrands Bilder haben keinen Symbolcharakter. Vielmehr sind sie „Standbilder“ oder Spiegelbilder eines Narrativs, welches unsere vermeintlich stabile Realität als Trugschluss entlarvt und uns in die beunruhigende Gewissheit einer sich permanent ereignenden Veränderung entlässt. Trotz oder gerade wegen ihrer zerbrechlichen Schönheit.

Dr. Erika Schlessinger-Költzsch
in.art ag
Schweiz